Edelsteine

"Kinder sind wie Edelsteine, die auf der Strasse liegen. Man muss sie nur aufheben, dann beginnen sie zu glaenzen." Giovanni Don Bosco

 

Edelsteine gibt es hier viele im Projekt. Auch, wenn man bei manchen Kindern genauer hinsehen muss - jeder hat ein nennenswertes Talent oder eine besondere Faehigkeit, auf die er oder sie stolz sein kann. Jedoch werden in unserer Gesellschaft bzw. in unseren Bildungssystemen (hier gibt es wohl weltweit kaum Unterschiede) hauptsaechlich Schwaechen bearbeitet, und zwar teilweise so penetrant, dass die Menschen nicht einmal mehr selbst ihre eigenen Staerken kennen. In den letzten Wochen habe ich hauptsaechlich ueber Probleme, Schwaechen und schlechte Eigenschaften geschrieben. Diese moechte ich diese Woche einmal in den Hintergrund ruecken und das Positive in das Rampenlicht stellen, das ich wohl etwas vernachlaessigt habe.

 

Luis Soriano, 12 Jahre alt, ist das tragische Wunderkind des Projekts. Seit fast fuenf Jahren (die Regel hier ist etwa 2 Jahre) lebt er hier in der Herberge. Es gibt kaum ein Wochenende, an dem er wie der Grossteil der Kinder zu seiner Familie heimfaehrt. Und das, obwohl seine Eltern aus der Mittelschicht kommen. Immer wenn wir nach dem Grund seines Daseins fragen, kommt nur ein "Er hat familiaere Probleme".

Luis ist genau das Gegenteil eines schwer erziehbaren Problemkinds. Er macht alles, wirklich alles sorgfaeltig und hat keine Probleme sich an Regeln zu halten. Er schreibt ausnahmslos gute Noten. Vormittags geht er ins Colegio und nach einem kurzen mittaeglichen Aufenthalt in der Herberge macht er sich auch schon wieder auf ins Conservatorio de Musica, wo er Geige, Gitarre UND Klavier spielt. Und generell gibt es eigentlich nichts, was er nicht kann oder gerne macht, ob lesen, zeichnen oder Fussball spielen. An manchen Tagen sitzt er bis 23 Uhr an seiner Hausuebung, weil er den ganzen Tag nicht dazukommt, hat sich diesbezueglich aber noch nie beschwert. Am Montag hatte ich meine erste "Reunion de padres" (Elternabend) im Conservatorio de Musica, wo ich als einziger Nicht-Elternteil (als quasi "Ersatz-Vater) teilnahm. Ich durfte auch eine Stunde im Unterricht beiwohnen und sein Talent bewundern. Keiner zweifelt daran, dass eine grosse Zukunft vor ihm stehen muss.

 

Aber nicht nur die offensichtlich intelligenten Kinder sind die Edelsteine, von denen ich hier schreiben will. Jeder Einzelne hat ein besonderes Talent, das entweder zu wenig gefoerdert wird oder das er womoeglich selbst nicht kennt. Auch hier liegt unsere Aufgabe, diese Talente zu entdecken und ihnen somit die Chance auf eine grosse Zukunft zu ermoeglichen. Nicht jeder muss ein Englisch- oder Mathe-Genie werden, um eine Zukunft zu haben. Wenn ein Kind kein Interesse an einem gewissen Bereich zeigt, muss man hier kein Interesse erzwingen, weil dies sowieso nicht moeglich ist.

 

Ich habe euch versprochen, heute das Positive in den Vordergrund zu ruecken. Jedoch kann ich die Probleme nicht ganz auslassen, da es doch jede Woche tragische Neuigkeiten gibt.

Jonathan, von dem in meinem letzten Eintrag zu lesen war, ist nun wegen Raubs (dies war zumindest die Version der Madres) in einem Jugendgefaengnis in Quito. Diese Nachricht hat uns sehr schockiert, da wir doch versuchen, in jedem noch so schwierigen Kind eine Zukunft zu suchen.

Isaac ist gluecklicherweise wieder bei seinen Eltern, aber ob er es dort sehr schoen hat, wage ich zu bezweifeln.

 

Was mich in den letzten auch sehr schockiert hat, war, dass kaum Sensibilitaet und Mitleid seitens der Mitarbeiter im Projekt gezeigt wird.

Richard wurde gestern von drei Jugendlichen ohne Grund zusammengeschlagen und nachdem wir ihn ohne Erfolg gesucht hatten, tauchte er doch am Abend bitterlich weinend auf. Mitleid? Fehlanzeige
"A comer, rapido!" ("In den Speisesall mit dir, aber schnell!") Auch hier muessen wir zeigen, dass es auch anders geht und dass man mit Gefuehlskaelte nur Gewalt erreichen wird.

 

Meine Arbeit scheint sich auch jeden Tag aufs Neue zu aendern, aber schoen langsam scheint sich der Tagesablauf zu fixieren. Heute sind zwei deutsche Volontaerinnen (Julia und Kathrin aus Frankfurt) im Projekt angekommen, die wir nun unsere Kolleginnen nennen duerfen? muessen? Nein, Spass beiseite..

Das Projekt im Zentrum mit der Hausuebungsbetreuung von ca. 200 Kindern sperrt am Montag auf und auch die anderen Teilbereiche beginnen. Somit werden die italienischen Volontaerinnen auf der Strasse arbeiten, die deutschen Volontaerinnen im Zentrum, Armin halbtags im Zentrum und halbtags auf der Strasse.

Alex und ich bleiben in der Herberge, was mich sehr freut, da ich hier doch schon sehr viele Beziehungen zu den Kindern aufgebaut habe, was bei 200 Kindern etwas schwierig ist.

 

Mein Tagesablauf sieht nun folgendermassen aus:

 

5:30 Uhr Aufstehen, Kinder aufwecken, Hausputz gemeinsam mit den Kindern

7:30 Uhr Fruehstueck, Speisesaal putzen

9:00 - 12:00 Uhr Nachhilfe fuer Jonny, einen 13-Jaehrigen aus aermsten Verhaeltnissen, der gemeinsam mit 12 anderen Kindern ein Stipendium an der guten Privatschule "Colegio Leonardo Murialdo" erhalten hat und grosse Schwierigkeiten hat, mit dem dortigen Niveau mitzukommen.

12:00 Uhr Mitagessen

 

Der Nachmittag varriert. Alex und ich muessen ab sofort die Schulen der Kinder besuchen, auf Elternabende gehen, um die Leistungen der Kinder abzufragen und deren Verhalten zu erfahren. Ausserdem wird es unsere Aufgabe sein, Kinder zu besuchen, die nicht mehr in der Herberge sind, um sie nach ihrem Zustand zu befragen. Wenn keiner dieser Termine anfaellt, bereiten wir entweder das Abendprogramm vor oder relaxen, wenn einmal nichts zu tun ist.

 

17:00 Uhr Betreuung der Kinder, die noch nicht mit der Hausuebung fertig sind, oder Ball spielen.

19:00 Uhr Abendessen

20:30 Uhr Abendprogramm

Das Programm varriiert von Abend zu Abend. Vor allem geht es darum, die Kinder so muede zu machen, dass wir in der Nacht eine Ruhe von ihnen haben ;)

Fussball spielen

Rumba tanzen

Filmabend (meistens Dokumentarfilme mit paedagogischem Hintergrund)

Noche creativa (whatever uns einfaellt: Gemeinschaftsspiele, Basteln, Theater, etc..)

21:30 Uhr Kinder ins Bett bringen

22:30 Uhr Endlich im Bett (ob man sich um diese Zeit schon ausruhen kann, ist allerdings noch nicht geklaert ;) )

 

Vielleicht habt ihr jetzt einen kleinen Ueberblick ueber meine Taetigkeit, die sich allerdings sowieso noch dutzende Male aendern wird.

Luis (Mitte) spaetnachts bei der Hausuebung
Luis (Mitte) spaetnachts bei der Hausuebung
Eduardo, ein weiterer Edelstein, beim Rumba tanzen
Eduardo, ein weiterer Edelstein, beim Rumba tanzen

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Kommentare: 3
  • #1

    Christoph und Maria (Donnerstag, 04 Oktober 2012 20:36)

    Lieber Manuel,
    Wir lesen jede Woche mit großem Interesse deinen blog. Kaum haben wir den neuesten gelesen, warten wir auch schon ganz gespannt auf den nächsten Beitrag.
    Du hast recht. Bei uns in Österreich ist das leider auch nicht wirklich anders.

  • #2

    Christoph und Maria (Donnerstag, 04 Oktober 2012 20:45)

    ... mit den stärken und schwächen. (Verflixtes Smartphone)
    Liebe grüße
    P.s.: am Sonntag wird Jakob getauft.

  • #3

    Oskar (Dienstag, 09 Oktober 2012 13:40)

    Wenn wir junge Menschen beeinflussen - erziehen versuchen wir sie immer auf "DAS LEBEN" vor zu bereiten, was nicht immer bedeutet die Stärken des gegenüber zu fördern. Wir möchten die jungen Menschen viel mehr darin unterstützen "LEBENSFÄHIG" (in der Gesellschaft) zu werden, was nicht immer bedeutet den Menschen als ganzes zu fördern.