Ein Hauch von Strasse

Ein Hauch von Strasse? Was will ich jetzt damit wieder bezwecken? Ich habe doch tag ein, tag aus mit Strassenkindern zu tun, und jetzt spreche ich nur von einem Hauch? Naja, nicht ganz. Die Kinder in der Fundacion haben zumindest Familien, zu denen sie an den Wochenenden fahren koennen, auch wenn dies nicht die gluecklichsten Wochenenden bedeuten. Aber es gibt eine Menge an Kindern hier, die dies nicht von sich behaupten koennen. Sie leben hauptsaechlich auf den belebten Strassen von Ambato, wo sie Schuhe putzen oder Suessigkeiten verkaufen, um zu ueberleben. Als waere das nicht schon schlimm genug, gewoehnen sich diese Kinder so sehr an die regellose Gesellschaft der Strasse, sodass sie gar nicht mehr weg wollen, da sie sich nicht mehr an geordnete Verhaeltnisse gewoehnen koennen. Frueher lebten auch in der Fundacion Don Bosco viele Strassenkinder, dessen Dableiben allerdings meistens nicht von langer Dauer war. Heute arbeiten wir in Person von Armin und den italienischen Volos mit ihnen, indem wir ihnen Kurse anbieten, die aber fast nicht angenommen werden, weil die Kinder nicht erkennen, dass diese Kurse eigentlich etwas Gutes fuer sie darstellen und sie immer fuer alles eine Gegenleistung erwarten. Daher ist die Strassenarbeit selbst im Moment eher eingefroren. Allerdings - und damit komme ich zu meinem heutigen Thema - kam dieses Wochenende ein Hauch von Strasse in die Herberge..

 

Jedes Jahr vor Weihnachten startet die Polizei eine Aktion, im Rahmen derer sie Freitag- und Samstagabend die arbeitenden Kinder auf der Strasse aufsucht und diese in Projekten wie eben der Fundacioin Don Bosco fuer ein Wochenende unterbringt. Am Montag darauf wird entschieden, was weiter geschieht. Diese Aktion wurde heuer fuer das vergangene Wochenende angesetzt.

 

Am Samstag stehe ich (noch ahnungslos) um sieben Uhr auf, wecke die Kinder auf, mache mit ihnen den Hausputz und gehe Richtung Speisesaal zum Fruehstueck. Waehrend mein Magen schon nach Tostadas und Colada schreit, bitte mich Madre Anita, ich solle doch die Kinder im unteren Zimmer aufwecken. Im unteren Zimmer? Giovanni ist doch bei seiner Familie? Noch verwirrter als ohnehin um diese Tageszeit mache ich die Tuer in Giovannis Zimmer auf und mit einen verschlafenen "Buenos Dias" begruesse ich die drei (neuen???) Kinder, die in einem Bett mit nur einer Bettdecke und einem Polster daliegen. Erst da faellt es mir wieder ein. Vor zwei Tagen hatte uns Madre Narciza schon von dieser Aktion erzaehlt. Ich gehe also zum Fruehstueck mit den auf den ersten Blick schuechternen drei Burschen im Alter von 11, 10 und 8 Jahren. Beim Fruehstueck fragt sie Jessica nach ihren Namen. Der aelteste sagt nach kurzem Ueberlegen: "Alejandro". "Alejandro? Bin ich heute komplett verwirrt oder hat er zu mir noch einen anderen Namen gesagt?". "Ist das dein Name fuer Samstag oder fuer das ganze Wochenende?", fragt ihn Jessica. "Ah, jetzt versehe ich." Strassenkinder haben es nicht gern, dass jemand seinen echten Namen kennt. "Aber etwas Kreativeres wie zum Beispiel Pikachu haette er sich schon einfallen lassen koennen", denke ich mir. Hat es alles schon gegeben.. Spaeter stellt sich heraus, dass er Daniel heisst, sein Bruder Roberto, und der kleine achtjaehrige Kaugummiverkaeufer Freddi.

 

Den ganzen Samstag verbringe ich mit ihnen und es stellt sich schnell heraus, dass diese Kinder noch weniger von Regeln halten als die Kinder in der Herberge. Vor allem der Aelteste spricht dauernd vom Abhauen und dass es sowieso nichts Schoeneres als die Strasse fuer ihn gibt. Doch kaum spiele ich ein bisschen mit ihnen, zeigt sich doch wieder eines. In jedem Kind steckt ein weicher Kern, der sich aber erst dann zeigt, wenn man sich mehr mit ihm beschaeftigt. Ein anstrengender, aber durchaus vergnueglicher Tag fuer mich.

 

Aber dass man durch einen Tag voller Freude nicht alles bei einem Kind heilen kann, zeigt sich am Sonntag nach der Kirche. Daniel weigert sich mit aller Kraft, mit uns zurueck in die Herberge zu fahren. Er will unbedingt auf die Strasse. Mit aller Kraft bringen wir ihn ins Auto, und danach ins Bett, wo er weinend von seinem toten Vater erzaehlt.

 

Dieses Wochenende hat mir wieder einmal gezeigt, dass kein - absolut kein - Kind selbst an seinem schlechten Verhalten schuld ist. Es steckt immer etwas dahinter. Und vor allem diese Kinder haben wahrscheinlich Sachen erlebt, die wir uns nicht einmal vorstellen wollen. Das einzige, was ihnen in dieser Situation hilft, ist, ueber gewisse Taetigkeiten hinwegzusehen und ihnen so viel Aufmerksamkeit und Zuneigung wie moeglich zu schenken. Dies habe ich am Samstag versucht, und auch wenn dieser Tag sie nicht ganz veraendern wird, hoffe ich zumindest, dass er ein praegendes Erlebnis fuer sie war.

 

Am Montag fuhr die Madre mit ihnen zur Dinapen, der Polizei fuer Jugendliche, um sie wieder abzugeben. Diese wird nun versuchen, entweder die Eltern oder eine passendere Fundacion fuer sie zu suchen. Fuer mich war es ein energieraubendes Wochenende voller Arbeit, aber ich bin ueberzeugt davon, dass die Arbeit nicht umsonst war.

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